Aus der Presse

Die Leidenschaft für das geschriebene Wort bringt Herbert J. Hopfgartner nicht nur in seinen Büchern zum Ausdruck, sondern auch in der Presse. Persönliche Perspektiven und thematische Deep Dives liest man in regelmäßigen Abständen in den renommierten Medien, wie „Salzburger Nachrichten“, „Standard“, „Die Presse“ und „Die Furche“.

Musik, Mode oder mehr?

Herbert J Hopfgartner Marley Reggae Musik
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ behauptet 1975, dass „durch Bob Marleys Ausstrahlung der Reggae, die Populärmusik von Jamaika, in der kommenden Saison zum internationalen Leitton werden kann. Nur einem Superstar seines Formats kann es gelingen, das akustische Ghetto zu  sprengen, in dem sich die fesselndste Klangfusion seit dem New Orleans der Jazzanfänge, dem Liverpool des Beatles-Aufbruchs und dem San Francisco der Hippie-Ära vollzogen hat.“

 

Der Reggae ist eine in den 1960er Jahren auf Jamaika entstandene Musikrichtung, die sowohl als rituelle Musik der Rastafarians – entstanden aus den populären Tanzmusiken Ska und Mento –, als auch als politischer Ausdruck der unterprivilegierten Ghettobevölkerung zu verstehen ist. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ist nicht eindeutig geklärt: Einige Musiker führen das Wort auf das lateinische rex („König“) zurück – demnach wäre der Reggae in einer Art religiösen Deutung eine „Musik des Königs“. Viel wahrscheinlicher erscheint die These, dass hier ein jamaikanischer Begriff aus dem Rotlichtmilieu, streggae („leichtes Mädchen“), den Weg in die Musik gefunden hat. Die erste namentliche Erwähnung fand er 1968 in einem Song („Do the Reggay“) von Toots and the Maytals.

Der charakteristische Off-Beat-Charakter in der Musik tauchte Ende der 1950er Jahre auf, als in Jamaika amerikanische Rhythm & Blues und Soul Musik mit den typischen Rhythmen des stark an die ursprüngliche afrikanische Stammesmusik erinnernden Mento kombiniert wurde.

In den Anfangsjahren spielten die Betreiber von mobilen Soundsystemen eine zentrale Rolle für die Verbreitung des Reggae. Diese „Discjockeys“ montierten überdimensionale Lautsprecher auf alten Lastwagen und übertönten auf der Ladefläche stehend mit eigenem Sprechgesang (Toasting) die abgespielte Musik. Da die tanzlustige junge Bevölkerung der Städte nicht hinreichend mit Import- Schallplatten aus den USA versorgt werden konnte und es viel zu wenige Abspielgeräte gab, wurden die einheimischen Talente gefördert und in abenteuerlichen Tonstudios produziert.

Die Texte werden auf Patois, der Sprache der Kreolen Jamaikas, die auf dem Englischen basiert, rezitiert und gesungen.

Rastafarianer (rastafarians) sind Mitglieder einer religiösen afroamerikanischen Erlösungsbewegung mit jamaikanischem Ursprung. Als Gründer dieser Gruppierung gilt Marcus Mosaih Garvey (1887–1940), der die Krönung von Ras Tafari Makonnen (1892–1975) zu Kaiser Haile Selassie I. von Äthiopien (1930) als Symbol einer Befreiung der farbigen Bevölkerung in Amerika deutete. In der amharischen Landessprache Äthiopiens bezeichnet Ras den „Kopf“. Es ist nicht nur der höchste militärische Rang, sondern auch eine kaiserliche Auszeichnung, wobei der Ausdruck schon im 16. Jahrhundert verwendet wurde.

Der Krönungstitel von Haile Selassie I., „Auserwählter Gottes“ und „Siegreicher Löwe von Juda“, interpretieren die Anhänger dieses Glaubens als dritte göttliche Inkarnation (nach Melchisedech und Jesus Christus). Er selbst sah sich als 225. Nachfolger von König Salomon.

Die Rastas projizieren ihre eigene Geschichte, also die Verschleppung nach und die Unterdrückung in Amerika, auf die biblische Erzählung des israelitischen Volkes. Gott werde demnach den Schwarzen aus dem von den Weißen begangenen Unrecht befreien. In den Anfängen des Rastafarianismus bedeutete dies die reale Rückkehr ins gelobte Land Äthiopien, heute verstehen die Rastafarians darunter eher die symbolische und spirituelle Heimkehr der Unterdrückten in einen Zustand der Freiheit und Selbstbestimmung. Äthiopien gilt ja nicht nur unter den Paläanthropologen als Wiege der Menschheit, sondern auch als der einzige genuin unabhängige afrikanische Staat – aus diesem Grund wurde und wird dieses Land nicht nur von den Mitgliedern des Rastafarianismus sondern auch von vielen Exilafrikanern idealisiert.

Als religiöse Quelle dient den Rastas die Bibel, insbesondere Texte des Alten Testaments (Henoch) sowie die Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament. Gott selbst wird als Jah (ausgesprochen „Dschah“), eine Verkürzung von Jahwe, bezeichnet. Die im Westen vor allem als Haartracht einer antibürgerlichen Haltung wahrgenommenen Dreadlocks und die ungestutzten Bärte werden von den Rastafarians auf das Buch Levitikus „zurückgeführt“ . Dort ist zu lesen, dass „kein Schermesser das Haupt berühren soll, bis die Zeit abgelaufen ist, für die er sich dem Herrn als Nasiräer geweiht hat. Er ist heilig, er muss sein Haar ganz frei wachsen lassen.“

Der rituelle Gebrauch von Cannabis (Ganja) als auch die salzlose vegetarische Kost wird mit der Bibel (der „Holy Piby“) begründet, wonach Gott den Menschen „alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten übergeben hat.“ Diese sollen den Menschen als Nahrung dienen.

Neben religiösen Themen („Roots Reggae“) spielt die Armut und die soziale Ungerechtigkeit in den Texten des Reggae eine große Rolle. Skurril und bezeichnend für die populäre Musik insgesamt und für den Reggae im Besonderen ist der Umstand, dass erst ein Weißer, nämlich Eric Clapton, mit einer Cover-Version von „I Shot the Sheriff“ den Schöpfer des Liedes, Bob Marley, bekannt gemacht hat und in weiterer Folge damit auch auf die sozial schwierige Situation in den Slums (Trenchtown) von Kingston hingewiesen hat.

In vielen Texten werden der Protest gegen die Jahrhunderte lange Beherrschung durch die Briten (1655–1962), das Gefühl der Gefangenschaft und die kulturelle Entfremdung artikuliert.

Als Beispiel sei der legendäre Film „The Harder They Come“ (1972) mit Jimmy Cliff in der Hauptrolle genannt, der die triste Lage der Kingstoner Jugendlichen und die Versuche, sich aus dem Ghettoleben zu befreien, beleuchtet. Bob Marley beruft sich in „Get Up, Stand Up“ (1973) – der heimlichen Hymne von Amnesty International – erneut auf den „Exodus“ und beschwört eine Erlösung von der herrschenden Ungerechtigkeit. Die vornehmlich „weiße“ Plattenindustrie ist gegenüber seinen politischen Songs eher skeptisch. Nicht zuletzt sei auf das Lied „Buffalo Soldier“ (1983 posthum veröffentlicht) hingewiesen, in dem der Sänger, immerhin „die potenteste und glaubwürdigste Rebellenfigur des Rock“ („The Guardian“) die absurde Situation beschreibt, dass die US-Regierung befreite ehemalige Sklaven gegen revoltierende Indianer einsetzt, um sie aus ihren Stammesgebieten zu vertreiben.

Auch wenn die meisten Reggae-Musiker von Pazifismus und Gerechtigkeit sangen – viele der Protagonisten wurden frühzeitig von der Dramatik ihrer Texte eingeholt: Peter Tosh und Carlton Barrett wurden ermordet, Bob Marley bei einem Überfall schwer verletzt – wohlgemerkt handelt es sich hierbei um Musiker ein und derselben Band. Die globale Eventindustrie hat sich seit geraumer Zeit des Reggae bemächtigt – bekannte Festivals finden schon lange nicht mehr nur auf Jamaika, sondern auch in Uppsala (Schweden), Eindhoven (Holland), Ostroda (Polen), am Chiemsee (Deutschland) und in Wiesen (Österreich) statt.

Die Refrains der Songs werden begeistert mitgesungen – die Kultur und die religiösen Elemente eines kleinen Teils der karibischen Inselbevölkerung, aber auch die großen gesellschaftspolitischen Probleme des vermeintlichen Urlaubsparadieses laufen jedoch Gefahr, vergessen zu werden. Info: Oscarpreisträger Kevin Macdonald hat das Leben Bob Marleys verfilmt. Die 144minütige Dokumentation „Marley“ läuft seit der Premiere im April in Kingston in den Kinos.

 

Vier Töne für die Ewigkeit

Herbert J. Hopfgartner Rockmusik Deep Purple Smoke on the water

„Guitar World“ nannte es 1991 das „Rockgegenstück zur Eröffnung von Beethovens Fünfter Sinfonie“. Vor 40 Jahren entstand „Smoke On The Water“, ein Stück, mit dem alles über den Hardrock gesagt ist.

G-Bb-C/G-Bb-Des-C/G-Bb-C-Bb-G. Generationen von Gitarristen, pardon: „Strom“- und Luftgitarristen, haben diesen Riff, genauer gesagt, die Akkordfolge geübt und interpretiert: zuerst ungelenk, in der
Folge mit wachsender Begeisterung, allein vor dem Spiegel und dann mit entsprechendem Selbstbewusstsein vor einem verzückten Freundeskreis – eine „Conditio sine qua non“ für einen Rockmusiker.

We all came out to Montreux on the
Lake Geneva shoreline
To make records with a mobile –
We didn’t have much time.

 

Deep Purple, seit Juli 1969 in der legendären Formation mit Sänger Ian Gillan, Gitarrist Ritchie Blackmore, Keyboarder Jon Lord, Bassist Roger Glover und Drummer Ian Paice, fliegen am 3. Dezember 1971 nach Genf, um in den nächsten Wochen im Casino („gambling house“) von Montreux unter Live-Bedingungen ihr sechstes Album einzuspielen. Der Stones-Pianist Ian Stewart trifft in der folgenden Nacht mit dem Rolling Stones Mobile Studio, einem alten BMC-Laird-Lkw, in der beschaulichen Stadt am Genfer See ein.

Frank Zappa & the Mothers were
at the best place around
But some stupid with a flare gun
burned the place to the ground.

Von Claude Nobs, dem Manager des 1967 gegründeten „Montreux-Festivals“ eingeladen, treten Frank Zappa & The Mothers of Invention im Rahmen ihrer „200-Motels-Tour“ am Nachmittag des nächsten Tages vor 2000 Menschen – darunter Gillan und Glover – im großen Saal des Casinos auf. Ein Fan ist so begeistert, dass er mit einer Leuchtpistole in die mit Holz verkleidete Deckenkonstruktion schießt, wodurch diese sofort zu brennen beginnt. Frank Zappa erklärt relaxt: „Es gibt ein Feuer. Warum gehen wir nicht alle raus?“

Smoke on the water Fire in the sky

Neben Frank Zappa wird der gelernte Koch und langjährige Impresario des Festivals, Claude Nobs, in dem Song verewigt. Er rettet Frauen und Kinder aus dem qualmenden Haus und hilft beim Löschen.

They burned down the gambling house –
It died with an awful sound
Funky Claude was running in and out,
pulling kids out of the ground
When it all was over, we had to find
another place
But Swiss time was running out –
It seemed that we would lose the
race because of

Zum Glück kann eine Panik vermieden werden. Das Feuer und das Löschwasser zerstören allerdings nicht nur das ganze Equipment der Zappa-Band, sondern auch einen großen Teil des Gebäudes. Über dem Genfer See breitet sich eine riesige Rauchwolke aus. Während Ian Gillan die Geschehnisse für die Nachwelt genau „protokolliert“, kann Roger Glover, das bizarre Bild nicht vergessen. Ein paar Tage später prägt er die Titelzeile:

Smoke on the water fire in the sky

Ein Ersatzquartier für die Aufnahmen muss gefunden werden – der eigentliche Plan der Investoren hinter der Band, Tony Edwards und John Coletta, ist es ja auch, aus fiskalischen Gründen die  Aufnahmen für das neue Album „Machine Head“ nicht in britischen Studios zu machen, sondern im finanztechnisch günstigen Ausland. „Funky“ Claude’s erste Idee ist das „Le Pavillon“, ein zentral in der Stadt gelegenes Theater. Während die Musiker mitten in der Nacht über den Riff von Ritchie Black more improvisieren, stürmt die Polizei das Gebäude – Anrainer haben sich über den ohrenbetäubenden Lärm beschwert. So zieht die Band ins „Grand Hotel des Alpes“ – es steht gerade wegen einem Umbau leer, ist deshalb ungeheizt – und liegt ideal am Rand der Stadt.

Ein Hotelflügel, genauer der Teil zwischen den Zimmern 56 und 57, wird „bezogen“, verkabelt, Wände, Türen und Fenster werden vorsorglich (aus akustischen und heizungstechnischen Gründen) mit Matratzen ausgelegt. Die surrenden Heizstrahler müssen bei den Aufnahmen ja abgeschaltet werden.

We ended up at the Grand Hotel – It was
empty, cold and bare
But with the Rolling Truck Stones Thing
just outside making our music there
With a few red lights and a few old beds,
we made a place to sweat
No matter what we get out of this, I
know… I know we’ll never forget

Um die einzelnen Takes bzw. Songs anzuhören, sind die Bandmitglieder jedoch gezwungen, durch einige Zimmer, über zwei Balkone und einer Feuerleiter zum Lastwagen, der im Innenhof des Hotels steht, zu gehen – so wird ein Großteil der Songs in relativ wenigen Versionen eingespielt. Die Aufnahmen dauern statt den veranschlagten sechs Monate nur drei Wochen.

Smoke on the water fire in the sky

„Smoke On The Water“, der einzige Song, der noch im „Pavillon“ aufgenommen worden ist, rutscht als „reiner Füller“ (Ian Gillan) ins Album. Von der Band denkt ursprünglich niemand daran, dass „ausgerechnet diese Nummer einen derartigen Erfolg haben würde.“ Als Single-Auskopplung erscheint „Never Before“ – und erweist sich als Flop.

Die (eher neue) Methode, einen Song mit einem kurzen charakteristischen Gitarrenriff zu beginnen, erinnert an Dave Davies’ „You Really Got Me“. Blackmore meint später: „Simplizität ist der Schlüssel.  Und es – das „Smoke“-Riff – ist simpel; die Leute spielen es heute noch im Gitarrenladen. Ich hatte nie den Mut, Songs zu schreiben, bis ich „Can’t Explain“ und „My Generation“ hörte. Diese Riffs waren so einfach und unmittelbar, dass ich dachte: Na gut, wenn Pete Townshend damit durchkommt, kann ich das auch.“

Der Beginn des Songs kann als Paradebeispiel eines perfekten Arrangements bezeichnet werden: Blackmore beginnt allein, wiederholt den Riff, beim dritten Mal unterstützt die verzerrte Hammondorgel das Motiv, während gleichzeitig ein subtiler Sechzehntel-Rhythmus auf der Hi-Hat das Metrum umspielt. Bei der nächsten Wiederholung kommen die Snare-Schläge im Off-Beat dazu. Im fünften Umlauf folgt der Bass mit schweren Achtel-Noten. Die berühmten Livekonzerte sind überdies geprägt von langen Improvisationen der Leadgitarre und des Keyboards. Fulminant und in der Rockmusik unübertroffen ist in diesem Zusammenhang das virtuose Doppelsolo von Blackmore und Lord am Schluss des Liedes. In die Rockgeschichte eingegangen ist auch jene Version vom 15. August 1972 in Osaka, in der Blackmore willentlich oder unfreiwillig den Riff abgewandelt hat.

„Smoke On The Water“ ist das Stück, das vielleicht alles über den Hardrock, seine Möglichkeiten, Gefühle und Perspektiven aussagt, das als Single alle Weltmärkte knackt und die LP hinter sich herschleift. Zeitsprung: Montreux im Jahre 2011. Das „Gambling House“, das Casino, wurde 1975 wieder aufgebaut. Die legendären „Montreux Mountain Recording Studios“, in denen sich Rock- und Jazzgrößen wie Queen (sechs Alben!), David, Bowie, Yes, Duran Duran, Chris Rea, Sting, Phil Collins, AC/DC, Brian Ferry, Status Quo, Led Zeppelin, Michael Jackson, Miles Davis, Ella Fitzgerald, B. B. King und Marvin Gaye die Mikrofone reichten, sind längst aus dem Haus ausgezogen.

Am Ufer des Sees steht eine von Irina Sedlecka geschaffene Skulptur, das „Freddie Mercury Memorial“. Der Sänger von „Queen“ verbrachte seine letzten Jahre in dem Ort. Das „Montreux Jazz Festival“ gibt es mittlerweile schon seit 45 Jahren: Heuer stehen Sting, Paul Simon, Carlos Santana & John McLaughlin, Liza Minelli, B. B. King und Quincy Jones auf der Bühne. Als Abschlusskonzert firmieren „Deep Purple with Symphonic Orchestra“. Smoke on the water – bis die Alpen glühen.

Sex, Drugs, Rock’n’Roll

Herbert J. Hopfgartner Autor Rockmusik

Heute ist die populäre Musik „immer und überall“, das revolutionäre Image der ersten Dekaden hat sie längst gegen das eines familientauglichen Freizeitprogramms eingetauscht. Ihre Wahrnehmung ist zweifellos anders als die der ernsten Musik, wobei die Unterschiede nur allzu leicht zu einem Gegensatz stilisiert werden.

Ein Lehrer bringt seine kostbare Schallplattensammlung, erlesene Schellackplatten, mit in den Unterricht. Die altertümliche Musik kann den Geschmack der Schüler nicht treffen – übermütig und aufgebracht werfen sie die Platten durch das Klassenzimmer, bis nicht nur der Lehrer am Boden zerstört ist. Ein Film, „Blackboard Jungle“ bzw. „Saat der Gewalt“ (so der viel sagende deutsche Titel) und seine Vorspannmusik werden 1955 zum Sinnbild für den sozialen Widerstand sowie den Wunsch nach gelebter Sinnlichkeit und Sexualität als Opposition gegen den biederen Geist des eigenen Elternhauses, die altmodische bürgerliche Gesellschaft bzw. einen das öffentliche Leben überwachenden Staat – und zur Geburtsstunde des Rock ’n’ Roll.

 

„Rock around the clock“, die „weiße“ Coverversion eines schwarzen Originals, welches ursprünglich von Sonny Dae and his Knights interpretiert wurde und bereits seit einem Jahr mit eher bescheidenem Erfolg auf dem Markt ist, ist in die Handlung des Films in keiner Weise integriert, der Text beschränkt sich auf die eher belanglose Mitteilung, dass diese neue Musik für jede Tages- und Nachtzeit die beste Untermalung sei. Dennoch oder vielleicht sogar deswegen wird der Song durch den Film stellvertretend für den Rock ’n’ Roll zum Mythos eines kulturellen Lebensgefühls, einer neuen Musikepoche und eines „Generation Gap“. Bis 1997 ist er – abgelöst von „Candle In The Wind“ in der Lady-Di-Version – auch die meistverkaufte Single der Pop- und Rockgeschichte!

Zensurversuche in den USA und Europa, erste Krawalle und eine Boulevardpresse, die, wie das „Neue Deutschland“, eine „Orgie der amerikanischen Unkultur“ beklagt, stilisieren den Film zu einem „kulturellen Symbol in der Auseinandersetzung zwischen den Generationen“. Der Cellist Pablo Casals ortet in Haleys Musik ein „Destillat aus allen Widerwärtigkeiten unserer Zeit“.

Dass die „schwarzen“ und „proletarischen“ Sänger und Komponisten wie Fats Domino, Little Richard, Chuck Berry und Bo Diddley sich in der von Weißen dominierten Unterhaltungsmusik schon sehr früh (ab 1955) behaupten konnten, lag wohl nicht nur an der erfrischenden Intensität des afroamerikanischen Musizier- und Gesangsstils, sondern möglicherweise auch daran, dass die „anstößige“, „primitive“ und „amoralische“ Musik der Schwarzen für die Jugendlichen ein ideales Symbol ihres Widerstands gegen den elterlichen Konformitätsdruck und Leistungszwang darstellte. „To rock“ ist im afroamerikanischen Slang ja nicht nur eine harmlose Metapher für das „Abtanzen“, sondern auch eine obszöne Umschreibung für den Geschlechtsverkehr.

Ikonen der neuen Freiheit

Der Rock ’n’ Roll als „die“ Musik der Nachkriegsgeneration verdankt seine Popularität aber auch der technologischen Entwicklung: Insbesondere dürfte neben einer dramatischen Steigerung der Mobilität der Jugendlichen, die sich erstmals über größere Distanzen treffen konnten, auch die Erfindung des Kofferradios („Portable Receiver“) und die kostengünstige Single Schallplatte eine große Rolle gespielt haben. Generell stellen Radio, Kino, Fernseher und später das Internet die technischen und ökonomischen Bedingungen für diese – auch visuelle! – Musikkultur dar.

Musikalisch aufschlussreich ist die Dominanz des Interpreten und der Melodie im Rock ’n’ Roll bzw. die Bedeutung des Sounds und der Band als Musikerkollektiv in den 1960er-Jahren, wobei sich schon unter dem Etikett „Rock ’n’ Roll“ mehrere unterschiedliche Stile versammeln: die Chicagoer Rhythm-&-Blues-Tradition, die Blues- und Boogie-Szene New Orleans, die tragenden Gospelchöre schwarzer Vokalgruppen und der „Western Swing“-Stil des amerikanischen Nordens – nicht zu vergessen das weiße Imitat des schwarzen Rhythm & Blues: der Rockabilly.

Die Songtexte der frühen Jahre lassen sich demnach als Dokumente einer ersten modernen „Subkultur“ und einer internationalen wie multikulturellen Jugendbewegung deuten, wobei die Definition dieses „Lebensstils“ aus der Sicht des Nachgeborenen nur schwer zu beschreiben ist: Als wichtiges Thema erscheint das Ausleben „spontaner Gefühle“ abseits einer Reflexion und ethisch-moralischer Grenzen. Chuck Berry vergleicht in „Roll Over Beethoven“ (1956) den Rock ’n’ Roll mit einer fiebrigen, ansteckenden „Krankheit“. Die Vertreter der ernsten Musik (Beethoven führte damals vor Tschaikowsky in den amerikanischen Classic Charts) können ab danken – ihre Zeit ist endgültig vorbei:

You know my temperature’s rising and the
jukebox blows a fuse,
My heart’s beating rhythm and my soul
keeps singing the blues,
Roll over, Beethoven, and tell Tchaikowski the news,
I got the rockin’ pneumonia, I need a shot
of rhythm and blues . . .

Die Nachkriegsgeneration will zwar von den (para-)militärischen Jugendvereinigungen (ihrer Eltern) wenig wissen, gleichwohl lässt der Drang vieler Jugendlicher, einer Gruppe anzugehören, neue „Peer Groups“ („Halbstarke“ in Deutschland, „Teddy Boys“, „Rocker“, „Mods“ in Großbritannien, „Blousons noirs“ in Frankreich, „Nozems“ in den Niederlanden, „Vittelloni“ in Italien) entstehen. Vermutlich hat der Rock ’n’ Roll als erste ethnisch nicht einzugrenzende Musikform die jugendliche Generation als eigene gesellschaftliche Schicht in völlig neuer, nämlich schriftloser Form angesprochen – nebenbei wurde der „Teenager“ für die Schallplattenindustrie ein disponibler und dankbarer Konsument.

Der Kultcharakter einer Band oder eines Interpreten transferiert die populäre Musik umgehend in den Bereich einer Warenästhetik, wobei die Industrie das Produkt durch eine ästhetische Inszenierung (vor allem) der äußeren Merkmale zu bewerben versucht: Das Phänomen eines „Soundmonopols“, der charakteristische Klang fungiert hierbei als Marke, aber auch eindeutige Identifikationsmerkmale abseits der Musik („Böse-Buben-Image“, cooles Sexsymbol, exzentrische Moden und Frisuren, Parolen und Gesten) sind deutliche Züge dieser Imagepflege. Von den Künstlern erfordert diese Entwicklung eine Individualisierung des Gesangsstils, des Sounds und anderer, außermusikalischer Faktoren wie eine dauerhafte Präsenz in einschlägigen Medien (Jugendmagazine, Radio, TV, Video, Internet) – Berichte über Sex- und Drogenskandale schaden nicht unbedingt.

Nicht nur die eigentliche Bedeutung des Namens („Rock ’n’ Roll“), sondern auch die anstößigen und „obszönen“ Bewegungen der Musiker auf der Bühne versprühten in den 1950er-Jahren eine noch nie da gewesene erotische Freizügigkeit. Amerikanische Frauenverbände setzten durch, dass Elvis („The Pelvis“) zu Beginn seiner Karriere bei Fernsehübertragungen ab dem Bauchnabel mit einem schwarzen Balken überblendet wurde.

Tatsächlich waren die beiden Bücher Alfred Charles Kinseys über das Sexualverhalten der amerikanischen Männer (1948) und Frauen (1953) für das prüde Amerika ein Schock – die junge Generation fühlte sich hingegen bestätigt. Wirksame Medikamente gegen Geschlechtskrankheiten und die Erfindung der Pille revolutionierten zudem das Sexualverhalten in den westlichen Industrieländern binnen weniger Jahre. So war die Aufbruchsstimmung in der Nachkriegsgeneration dementsprechend euphorisch – als Ikonen dieser neuen sexuellen Freiheit dienten neben Schauspielern vor allem Stars aus der Musikszene.

Der Druck der Musiker, im Business erfolgreich zu sein, ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen zu müssen bzw. die Balance zwischen hyperaktiven Minuten auf der Bühne und apathisch-monotonen Stunden in Hotelzimmern, Bussen, Flughäfen, Garderoben und  Aufnahmestudios zu finden, ist enorm. Der Sprung auf die Hochschaubahn der Drogen war und ist für viele Musiker ein fataler Schritt: Euphorika, zur Steigerung des Wohlbefindens eingenommen, beruhigende Sedativa bzw. Tranquilizer, den Schlaf fördernde Hypnotika, betäubende Inebriantia, aufputschende Stimulantia bzw. Excitantia und Sinnestäuschungen hervorrufende Psychedelika bzw. Halluzinogene werden hintereinander, abwechselnd oder zusammen konsumiert, um im entscheidenden Moment den faszinierenden „Kick“ zu spüren, einen Absturz in der Gunst des Publikums zu verkraften, eine Tournee einigermaßen zu überstehen oder einfach nur, um schlafen und aufwachen zu können.

Die Revolution frisst ihre Kinder – die technokratischen Strukturen der Musikindustrie, vor allem die künstlerische Nivellierung auf einen vorgegebenen Geschmack oder ein Radioformat, der Zwang zur Amortisation einer Produktion und die wachsende Kapitalkonzentration auf einige wenige „Global Player“ lassen kaum innovative Konzepte entstehen, ohne dass diese entweder sofort inhaliert – oder auf Dauer ignoriert werden. Paradox ist und bleibt, dass erfolgreiche Musiker, die zuvor gegen das Establishment gesungen hatten, sich über Nacht als Teil des Geschäfts und der Industrie wiederfanden.

30 Jahre nach „Blackboard Jungle“: Möglicherweise zwei Milliarden Menschen in mehr als 150 Ländern der Welt dürften die Satellitenübertragung der „Live Aid“-Konzerte im Juli 1985 verfolgt haben. Krawalle und Ausschreitungen wurden nicht gemeldet. Stattdessen feierte man friedlich, über mehrere Generationen hinweg, ein Konzertereignis als familientaugliches Spektakel der Superlative.

 

Alle Texte veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis der Salzburger Nachrichten und Verlagsgesellschaft m.b.H. & Co KG.